Identität, Diversität und Meinungsbildung in sozialen Medien

Identitätsformation

Identitäten zeichnen ein Selbstverständnis einer Person und deren Zugehörigkeit aus. Die Art und Weise, wie sich diese Zugehörigkeiten heute strukturieren, hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich geändert. Waren es in den Jahren nach 1945 noch Institutionen, wie Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften, sind es heute lose Strukturen und individualisiert verortete Charakteristika, wie die persönliche Lebensweise, die politisches Bewusstsein prägen. Diese Feststellung konnte Putnam 2000 schon in seinem Artikel Bowling Alone in den USA aufzeigen (Putnam 2000). Auf Basis dieser Analyse hat der Politikwissenschaftler Lance Bennet festgestellt, dass sich durch diese Vereinzelung auch die Form politischer Teilhabe und Meinungsbildung verändert hat (Bennett 2012).

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Dass der Einfluss von Institutionen abgenommen hat, ist auch in der Infografik zu „Werten in Österreich 2017“ nachvollziehbar. Es zeigt sich, dass die Wichtigkeit von Beruf und Arbeit, wie auch von Religion, über die letzten 30 Jahre deutlich abgenommen hat (Werteforschung 2017). Der gleichzeitige Anstieg von Faktoren wie Freundschaften und Freizeit zeigt, dass sich im Wandel der Präferenzen auch die Meinungsbildung ändert. Die Identifikation als „ArbeiterIn“ oder als „KatholikIn“ und die damit einhergehende MeinungsmacherInnenposition der Institutionen wie Kirche oder Gewerkschaft erodieren gleichermaßen. Während sich die Rolle von Institutionen geändert hat, bedeutet dies aber nicht, dass der Glaube oder die Lebensbedingungen von Menschen deshalb irrelevant wären. Sie nehmen jedoch neben anderen Bedürfnissen eine andere Stellung ein und stehen im Verhältnis zu anderen Identifikationsmerkmalen.

An Stelle der Institutionen treten laut Bennett Netzwerke und Bewegungen, die immer wieder neue Identifikationsmöglichkeiten mit den Personen suchen müssen (Bennett 2012: 28). Social Media bietet dabei das Werkzeug, um hochindividualisierten Protest zu koordinieren (Bennett 2012: 31). Die Mobilisierungsfunktion von Social Media ist aber nur eine Funktion, die auf die Wirkmächtigkeit von Vernetzung und Informationsaustausch hinweist. So wird zum Beispiel Solidarität nicht mehr ausschließlich durch Mitgliedschaft in einer Vereinigung ausgedrückt, sondern wesentlich selbstverständlicher durch das Teilen eines Videos. Dementsprechend ändert sich auch die Mobilisierung von politischem Protest.

Während der Einfluss strukturierender Institutionen zurückgegangen ist, sind Ideologien, Vorstellungen und Ausgrenzungsmechanismen innerhalb von Gesellschaften weiterhin vorhanden. Die Debatte rund um Integration in Österreich zeigt beispielsweise, dass StaatsbürgerInnenschaft oftmals kein ausreichendes Kriterium mehr ist, um „ÖsterreicherIn“ zu sein. Merkmale wie Sprache oder Aussehen sind neben dem Faktor StaatsbürgerInnenschaft ebenso Bestandteil der Wahrnehmung dessen, was als Norm angesehen und wer als „abweichend von der Norm“ reguliert wird. Derartige Konstruktionen werden zum Beispiel im Alltag reproduziert, wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe nicht auf Deutsch angesprochen werden oder wenn diese bei der Arbeitssuche diskriminiert werden, da das soziale Gefüge am Arbeitsplatz gestört werden könnte – die vorgegebenen und rationalisierenden Scheinargumente für Diskriminierung sind dabei vielfältig.

Identität und soziale Medien

Über diese Konstruktionen lassen sich kollektive Politiken gegenüber Gruppen, gepaart mit individualisierter Unterstützung von vielen umsetzen. Die UnterstützerInnen konstituieren sich als Gruppe in der Abgrenzung der Einzelnen. Weiters sind es neben den klassischen Medien soziale Netzwerke, die es erlauben auf die konkreten Bedürfnisse und Vorstellungen von NutzerInnen abgestimmt Botschaften zu vermitteln. Die Relevanz des Konsums von Nachrichten auf sozialen Medien wird durch eine Studie von Spectra Marktforschung (Spectra Marktforschung 2016: 1) deutlich: 54% der ÖsterreicherInnen nutzen soziale Medien regelmäßig, mit steigender Tendenz. Eine 2015 veröffentlichte Studie von Bakshy, Messing und Adamic hat gemessen, was schon an anderer Stelle im politischen Diskurs beobachtet wurde: politische Einstellungen werden durch verschiedene Filter auf Facebook (als die prominenteste Plattform) verstärkt (Bakshy, Messing, and Adamic 2015). Dies liegt aber nicht nur am Ranking der Facebook Algorithmen im News Feed von NutzerInnen, sondern auch an der Diversität der Freundschaftsnetzwerke und dem eigenen Bedürfnis Nachrichten zu konsumieren, die der politischen Ausrichtung oder Identität entsprechen. Dahingehend ist es auch nicht verwunderlich, dass Plattformen wie Facebook Wahrnehmungen, Vorurteile und Ideologien verstärken. Das Geschäftsmodell der meisten Social Media Seiten ist, dass Menschen möglichst lange auf der Seite interagieren und dabei Werbung sehen. Je ansprechender und weniger ärgerlich ein Inhalt ist, desto länger bleiben Personen auf der Seite, was wiederum den Umsatz des Unternehmens steigert. Inhalte, die von NutzerInnen abgelehnt werden, werden gefiltert, da diese zu einem negativen Erlebnis auf der Plattform führen würden.

Gleichzeitig versuchen MarketingexpertInnen auf der Plattform möglichst spezifischen Gruppen ihre Inhalte zu vermitteln und zeigen dabei, dass zum Beispiel eine größere Übereinstimmung oder Identifikation mit den Zielgruppen zu höherer Relevanz für die KonsumentInnen führt.

Diese Effekte führen auch dazu, dass nicht nur politische, sondern auch gesellschaftliche Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft durch den Austausch via Social Media nicht abklingen, sondern das Potential haben sich zu verhärten. Wenn also zum Beispiel Gruppen, die nicht als ebenbürtig in der Gesellschaft wahrgenommen werden, über diese Plattformen soziale Realitäten verarbeiten, dann kann die betriebene Isolierung durch die Funktionsweise dieser Medien verstärkend wirken. Im Gegensatz zur früheren Strukturierung von Gesellschaft mit ihren Institutionen, ist es weitaus schwerer geworden, hier einen gemeinsamen Raum zu schaffen, in der die Auseinandersetzung miteinander notwendig ist.

Social Media und Meinungsbildung

Hinzu kommt, dass mit der verminderten Nutzung von Fernsehen, Radio und Zeitungen auch der gemeinsame Referenzpunkt für mediale Vermittlung von Realität zurückgedrängt wird. Das heißt, dass verschiedenste, für Zielgruppen zugeschnittene Medien, zu einer Wahrnehmungswelt führen können, die eine gemeinsame Basis zur Erarbeitung von gegenseitigem Verständnis erodieren lässt.

Ein weiterer Punkt ist, dass die Nutzung dieser Medien selbst je nach sozialem Hintergrund unterschiedlich sein kann. Untersuchungen von Marina Micheli mit italienischen Jugendlichen haben gezeigt, dass die wahrgenommenen Möglichkeiten von Sozialen Medien mit dem kulturellen Kapital der jungen Menschen korrespondiert (Micheli 2016). Das heißt, dass je nachdem wie hoch der Bildungsgrad, das soziale Umfeld und die Perspektive von Menschen innerhalb einer Gesellschaft aussieht, auch die Möglichkeiten sich selbst zu artikulieren, anders wahrgenommen werden. Zum Beispiel können Jugendliche, die schon früh musikalische Erziehung bekommen haben auf diese Form der Artikulation zurückgreifen, während Jugendliche, die diese Möglichkeit nicht haben auf weniger Medien und Artikulationsformen eingeschränkt sind.

Von diesem Argument ausgehend, kann angenommen werden, dass mit diesen Kommunikationsformen auch spezifische Strategien der politischen Meinungsbildung und Artikulation entstehen. Dies konnte nicht zuletzt bei rechtsextremer Online Mobilisierung festgestellt werden, die sich in den letzten Jahren via Image-Boards koordiniert, um dann in die sozialen Netzwerke auszustrahlen. Während soziale Medien also ein Angebot für manche schaffen, können Menschen mit größerem sozialem Kapital immer noch auf ein größeres Repertoire an Ausdrucksformen zurückgreifen. Dies spiegelt sich in weiterer Folge auch in der Kommunikation im Internet.

Das Abnehmen von Interaktion mit anderen Ideen und Milieus und die Zunahme von verstärkten Faktoren der eigenen Weltsicht können somit als Herausforderung für integrative Maßnahmen gesehen werden. Nicht nur in Wahlkämpfen in denen Polarisierungen, wie jene von Bakshi, Messing und Adamic festgehalten, verstärkt und genutzt werden, sondern auch alltägliche Meinungsbildung via sozialen Netzwerken führt zu einer stetigen Reproduktion der eigenen Wahrnehmung.

 

Literatur

Bakshy, E., S. Messing, and L. A. Adamic. 2015. “Exposure to Ideologically Diverse News and Opinion on Facebook.” Science 348(6239): 1130–32. http://www.sciencemag.org/cgi/doi/10.1126/science.aaa1160. (2.10.2017)

Bennett, Lance. 2012. “The Personalization of Politics: Political Identity, Social Media, and Changing Patterns of Participation.” The Annals of the American Academy of Political and Social Science 644: 20–39.

Horkheimer, Max, and Theodord W. Adorno. 2009. Dialektik Der Aufklärung. 18. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.

Micheli, Marina. 2016. “Social Networking Sites and Low-Income Teenagers: Between Opportunity and Inequality.” Information Communication and Society 19(5): 565–81.

Putnam, Robert. 2000. Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community. New York: Simon & Schuster.

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